Künstler und Mediendesigner Kirill Glazunov: Mein Krankheitsbild

   
Ich heiße Kirill Glazunov, bin 1972 geboren und lebe seit meinem 21. Lebensjahr mit dem Tourette-Syndrom. Schon in der Kindheit zeigten sich bei mir gewisse Auffälligkeiten wie Ordnungs- und Waschzwänge, Neigung zum Perfektionismus sowie die ersten, noch nicht besonders auffälligen Tics. Erst nach der Pubertät begann ich ganz merkwürdige "Rituale" direkt in der Öffentlichkeit durchzuführen, wobei ich diese für mich als "Mutproben" definiert habe, verschiedene Handzeichen und ruckartige Bewegungen, Tänzeln mit den Beinen und so weiter. Außerdem musste ich mich zu Hause oftmals verletzen und griff zu den Steckdosen. Ich bekam damals meine ersten Medikamente, sowie die Diagnose Zwangserkrankung.

Nach einer Phase der vermeintlichen Besserung kam dann mit etwa 25 Jahren eine Reihe von explosionsartigen Anfällen mit sehr heftigen motorischen Tics oder "unkontrollierten Wutausbrüchen", vermutlich als Reaktion auf meine ständigen Versuche, die Tics im Alltag zu unterdrücken bzw. auf meine "Nicht-Akzeptanz" oder "Nicht-Ernstnahme" der Erkrankung und eine ungeheuerliche Anstrengung, dem "Etalon der Normalität" in der Öffentlichkeit zu entsprechen. Ab diesem Zeitpunkt in meinem Leben konnte ich auf meine Tics gar keinen Einfluss mehr nehmen und stand deshalb vor der äußersten Grenze der Verzweiflung, da ich mir mein Verhalten nicht erklären konnte. Immer wieder gingen ganz verschiedene Einrichtungsgegenstände durch meine heftigen motorischen Tics kaputt. Auf der Straße, im Bus und im Supermarkt gab es immer wieder Ärger mit Passanten, die mit meiner Krankheit nicht umgehen konnten.

Während meines ersten stationären Aufenthaltes in der Medizinischen Hochschule Hannover wurde mir endlich von einer führenden Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie die Diagnose "Tourette-Syndrom" gestellt. Das war für mich ein ganz wichtiges Ereignis, durch das mir Vieles klar geworden ist. Nun gab es eine Erklärung dafür, was mit mir los ist und dass ich nicht "verrückt" bin. Dennoch war ich noch lange Zeit deprimiert, da ich wusste, dass diese Krankheit unheilbar ist und ich mit ihr bis zu meinem Lebensende klarkommen muss.

Nach etwa zweieinhalb Jahren habe ich dank einer intensiven Verhaltenstherapie in einer speziellen Klinik die stark ausgeprägten motorischen Tics deutlich beruhigen können, so dass ich keine besonders zerbrechlichen Sachen wie Glasscheiben, PC-Tastaturen und andere sensiblen Gegenstände mehr kaputtmachte und mir ging es mit der ganzen TS-Symptomatik allmählich besser. Mein Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig ging schneller voran und ich konnte sogar anfangen, wieder Auto zu fahren wie vor dem Ausbruch der Krankheit. Ich war damals in einer überwiegend guten Stimmung und habe sogar ernsthaft daran geglaubt, irgendwann wieder ganz gesund zu werden.

Doch mit dem Tod meines Stiefvaters im Jahr 2002 und einer für mich sehr schmerzhaften Trennung von meiner damaligen Freundin verschlimmerte sich die Symptomatik bei mir wieder nach und nach, wobei diesmal die vokalen Tics in den Vordergrund rückten. Ich schrie oft oder machte verschiedene Geräusche und Laute. Aber auch die motorischen Tics nahmen wieder zu: ich fing wieder an zu zucken, musste unterschiedliche Bewegungen und "zwanghafte Rituale" mit den Beinen und Armen ausführen, drückte übermäßig kräftig alles was ich anfassen musste, zog verschiedene Grimassen und spannte ununterbrochen meinen ganzen Oberkörper an.

Mit viel Mühe und Zielstrebigkeit kam ich mit meinem Studium - trotz aller Schwierigkeiten, die damit verbunden waren - langsam, aber sicher voran, so dass ich meine Diplomarbeit im Juli 2006 abgeben und das Diplom machen konnte.

Doch gleich danach begann sich mein gesamter Krankheitszustand systematisch zu verschlimmern. Nach mehreren weiteren stationären Behandlungsversuchen wurde klar, dass mir ein normaler Lebensalltag nicht mehr möglich ist. Durch extrem aggressives oder autoaggressives Verhalten in Verbindung mit ausgeprägten Zwängen konnte ich fast nicht mehr in die Öffentlichkeit gehen. Aber auch der Zwang, zu Hause zu bleiben und nicht rausgehen zu können, wurde für mich zum Horror. So landete ich im Oktober 2007 zunächst im "Eingliederungsheim Wahrendorff" in der Nähe von Hannover, nicht weit vom Haus meiner Mutter, so dass sie mich öfters besuchen konnte. Und dann im April 2008 bekam ich einen Platz in einem "Alters- und Pflegeheim" in Wildemann im Harz. Mehrmals wurde ich in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert, wo ich für längere Zeiten am Pflegebett fixiert werden musste. Auch die lang andauernden, qualvollen Panikattacken begleiteten mich in dieser Zeit, für mich die schlimmste meines Lebens.

Doch dann ging es wieder etwas aufwärts: Ich lernte im Heim eine besonders nette Krankenpflegerin kennen, die bereit war, mir einen Teil ihrer Wohnung unterzuvermieten und mich zu Hause zu pflegen. Seit dieser Zeit bemühe ich mich (zusammen mit meinem gesetzlichen Betreuer) um einen Platz in einer Fachklinik für Verhaltenstherapie gegen Zwänge, weil ich damit schon früher, wie erwähnt, sehr gute Erfahrungen gemacht habe. Dazu gehörte die Erfahrung, dass die Behandlung von Zwängen sich auch positiv auf die Reduktion der Tics auswirkt. Doch keine der Kliniken, bei denen ich mich in den letzten zwei Jahren telefonisch oder persönlich vorgestellt habe, war bereit, mich aufzunehmen. Das lag wohl vor allem an der erheblichen Lautstärke meiner vokalen Tics und an den recht ausgeprägten motorischen Tics und Zwängen, von denen sich andere Patienten und das Personal gestört fühlen würden.



Herkunft und beruflicher Werdegang:  

Ich bin in Moskau (Russland) geboren, habe mit 17 das Abitur gemacht und an einer Moskauer Kunsthochschule die ersten vier Semester studiert. Mit 19 Jahren bin ich mit meiner Mutter nach Deutschland, schließlich nach Hannover gekommen und begann 1993 an der Hochschule für Bildende Künste (HBK) in Braunschweig in der Fachrichtung Kommunikationsdesign erneut zu studieren. Trotz zahlreicher Ausfälle wegen stationärer Aufenthalte in verschiedenen Kliniken und Krankenhäusern konnte ich gute Studienleistungen erbringen und meine Diplomarbeit erfolgreich beenden. Im Hauptstudium näherte ich mich immer mehr dem Medium Film. So lautete das Thema meiner Diplomarbeit 2006 an der HBK Braunschweig Eine filmische Dokumentation über den Architekten und Anthroposophen Niels Sonne-Frederiksen, über seine Person und sein Lebenswerk.

Online-Galerie Kirill Glazunov 

Bad Harzburg, den 12.05.11

 

Tourette extrem: Tiefe Hirnstimulation
Bericht über die Implantation eines Hirnschrittmachers
 
Meine Tourette-Symptomatik wurde immer schlimmer und schlimmer. Ich hatte immer weniger Raum, in dem ich mich ausbreiten konnte und musste mich endgültig in meinem Bett verkriechen. Unter "meinem Bett" meine ich nur die zwei aufeinander liegenden Matratzen auf dem Fußboden, denn das eigentliche "Schlafzimmer" habe ich schon vor langer Zeit durch meine unkontrolliert motorischen Tics zerschlagen, genauso wie diverse andere Möbel und Gegenstände ... Und gerade das Bett wurde für mich zum Horror-Ort, an dem sich meine schlimmsten Tics und Zwänge abspielten. Ich habe mich permanent blutig geschlagen, gekniffen, meine Lippen und die Zunge gebissen. So musste ich zum Beispiel immer öfter mit der Faust in mein linkes Auge schlagen. Ich hatte fast durchgehend ein blaues Auge und über dem Auge eine riesige Beule. Die Beule ist bis jetzt noch in meinem Gesicht zu sehen und mit dem Auge sehe ich nur sehr verschwommen.

Zu der Zeit konnte ich gar nicht mehr die Wohnung verlassen, und nichts mehr im Haushalt machen ohne was kaputt zu schlagen. Alles lag auf den Schultern meiner Pflegerin, die das ganze Elend mit ansehen und anhören musste, ohne mir helfen zu können. Sowie den ganzen Haushalt und meine Pflege hat sie alleine gemacht. Immer mehr litt ich zusätzlich an Selbstmordgedanken, da ich keine Zukunft für mich mehr sah. Die letzte Chance sah meine Pflegerin in der Implantation eines Gehirnschrittmachers. Ich war anfangs sehr skeptisch, da ich dachte, ich zerstöre das Gerät durch meine unvermeidlichen Schläge am Kopf und am Oberkörper. Doch meine Pflegerin war entschlossen, dass dies die einzigste Möglichkeit sei, mein Leben zu retten. Wir riefen Dr. Kuhn an in der Psychiatrie der Uniklinik Köln, wo ich 2007 zur medikamentösen Behandlung schon war und machten den nächstmöglichen Termin, Ende Oktober 2011, für die tiefe Hirnstimulation.

Die Fahrt nach Köln am 20. Oktober 2011 mit dem Krankentransport war für mich ein richtiger Horror. Anfangs war ich so aufgeregt, dass ich anfing, während des Transports um mich zu schlagen dadurch habe ich sogar die Sanitäter verletzt. Daraufhin mussten die Sanitäter mich an der Liege vollfixieren, so dass ich mich auf der fast vier Stunden dauernden Fahrt gar nicht bewegen konnte, ich habe geschrien ohne Unterlass. Es war eine richtige Folter mit dem Tourette-Syndrom fixiert zu sein, so dass man die üblichen Tics gar nicht ausüben konnte. Das kenne ich leider zu gut aus meiner Vergangenheit, wo ich in geschlossenen Psychiatrien Tage und Nächte lang fixiert werden musste.

Dann in der Uniklinik Köln: Da ich mich aufgrund meiner extrem ausgeprägten motorischen Tics aus meinem Zimmer in der Psychiatrie selbst gar nicht fortbewegen konnte, war abgesprochen, dass alle technischen Untersuchungen (MRT, CT etc.) am Tag und unmittelbar vor der Operation unter Vollnarkose zusammen mit der Operation durchgeführt werden. Die ganze Woche vor der Operation habe ich mich ausschließlich in meinem Zimmer aufgehalten und wurde von den Neurochirurgen und Psychiatern zu meiner Symptomatik genau befragt, damit die Ärzte herausfinden konnten, wo genau im Gehirn die Elektroden des Hirnschrittmachers plaziert werden sollten.

Am 27. Oktober, am Operationstag, bin ich frühmorgens aus meinem Zimmer in der Psychiatrie auf der Liege in die Neurochirurgie der Uniklinik Köln transportiert worden. Etwa 11 Stunden befand ich mich unter Vollnarkose und wachte erst gegen halb sieben im Aufwachraum der Neurochirurgie wieder auf. Zu meinem Erstaunen war ich ziemlich ruhig, nur konnte ich nicht normal reden, ich habe stark genuschelt – eine Nebenwirkung, mit der ich aber schon vor der OP gerechnet habe. Die erste Nacht nach dem Eingriff hatte ich weiterhin im Aufwachraum verbracht und bin am nächsten Morgen zurück in die Psychiatrie transportiert worden. An diesem Tag habe ich zum ersten Mal mein Zimmer selbstständig verlassen und bin ins Raucherzimmer der Station rauchen gegangen. Im Raucherraum habe ich ziemlich lange Zeit verbracht, die Leute um mich herum im Raucherraum haben mich gar nicht gestört, ich konnte mich mit ihnen unterhalten und konnte genießen, dass ich so ruhig und ausgeglichen war.

Plötzlich wurde ich gerufen: Professor Dr. Volker Sturm, der meine Operation geleitet hat und Dr. Jochen Wirths aus der Neurochirurgie, der ebenfalls meine Operation mitgemacht hat, wären da und möchten wissen, wie es mir am ersten Tag nach der OP geht und außerdem wollen sie meinen Schrittmacher mit der speziellen Fernbedienung besser einstellen.

Am Tag danach habe ich meine ersten Schritte aus der Psychiatrie in die Öffentlichkeit gemacht. Zum ersten Mal bin ich rausgegangen, auch hinter das Gelände der Uniklinik und habe gemerkt, dass ich mich fast ohne motorische Tics, ohne Zwänge und ohne, dass was passiert ganz normal unter Menschen gehen kann. Nur vokale Tics waren noch präsent, aber viel seltener, als vor dem Eingriff. Ich konnte mich minutenlang durch die Innenstadt von Köln ganz ohne TS-Symptome bewegen, und wenn ich ab und an schreien oder fluchen musste, hat fast niemand nach mir geschaut. Ich habe gleich gedacht, und zwar zu Recht, die Bevölkerung in Köln sei sehr tolerant, man kann quasi die Menschen hier mit solchen Tics nicht überraschen.

Ich musste allerdings noch etwa drei Wochen im Krankenhaus bleiben, zur Beobachtung und zur besseren Einstellung meines Hirnschrittmachers. Ich bin fast jeden zweiten Tag in die Neurochirurgie / Stereotaxie der Uniklinik gelaufen, wo die Fachärztin für Neurochirurgie, Frau Lenartz, mir den Schrittmacher mit der Fernbedienung immer wieder etwas umgestellt hat, damit eine optimalere Einstellung des Geräts gelingen konnte. Professor Dr. Volker Sturm und Dr. Jochen Wirths habe ich dort auch noch einige Male getroffen. Dr. Sturm hat mich nochmals ganz genau befragt zu allen meinen Tics und Zwängen vor und nach der Operation. So konnte ich zum Beispiel berichten, dass sich alle meine motorischen Tics und Zwänge nach der Operation insgesamt um etwa 80-90 % gebessert haben.

In Köln bin ich jeden Tag rausgegangen, mehr als eine Stunde bin ich durch die Stadt gebummelt, habe eingekauft, beim Bäcker Kaffee getrunken, im Stadtpark spazieren gegangen und verbrachte sogar eine halbe Stunde in einer Kirche voller Menschen im Gottesdienst ohne ein Mal zu schreien. Ich konnte mein Glück noch nicht richtig fassen, dass ich wieder fast normal bin, wie andere Leute!

Nach insgesamt fast vier Wochen Aufenhalt in Köln musste ich mit dem Krankentransport wieder zurück nach Hause nach Bad Harzburg fahren. Aber das war nicht zu vergleichen mit der Hinfahrt: Ich saß ganz locker hinten auf der Liege, spielte mit meinem Handy, unterhielt mich ganz entspannt mit der Sanitäterin. Zu Hause angekommen, ging ich abends noch mit meiner Pflegerin spazieren. Seit dieser Zeit gehe ich fast jeden Tag raus, helfe meiner Pflegerin einzukaufen und im Haushalt, spüle zum Beispiel jeden Tag das Geschirr, staubsauge, kümmere mich um unsere Katze. Durch die tiefe Hirnstimulation habe ich eine ganz neue Lebensqualität bekommen, eine neue Chance zu leben und ich freue mich darüber, wenn ich morgens die Augen aufmache und der neue Tag anfängt. Ab jetzt versuche ich diese Chance auszunutzen und aktiv zu werden in meinem gelernten Beruf als Mediendesigner.

An dieser Stelle möchte ich mich von ganzem Herzen bei allen Ärzten der Uniklinik Köln bedanken, die meinen Traum, normal zu leben, möglich gemacht haben! An erster Stelle ist es natürlich Professor Dr. Volker Sturm, der, wie oben erwähnt, meine Operation geleitet und geführt hat sowie Oberarzt Dr. med. Jochen Wirths, der ebenfalls operiert hat, Frau Doris Lenartz, die Fachärztin für Neurochirurgie, die den Hirnschrittmacher optimal eingestellt hat, die Ärzte von der Psychiatrie der Uniklinik Köln, Professor und Oberarzt Dr. med. Jens Kuhn, Dr. med. Daniel Huys, Professor Dr. med. Joachim Klosterkötter, der Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie sowie die Stationsärzte der Station “3” der Psychiatrie an der Uniklinik Köln, die Oberärztin Frau Dr. Beril Canata und Dr. Tobias Skuban. Alle diese Ärzte haben mich vor und nach der Operation umfassend unterstützt und ausführlich beraten.

Mein besonderer Dank geht auch an meine Pflegerin und sehr gute Freundin Frau [...], ohne die ich mich für diesen Schritt wahrscheinlich nie entschlosen hätte!

Bad Harzburg, den 12.12.11

 

 

 

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