Ein Touretter in Indien

von Hermann Krämer

Schon in meiner Schulzeit vertiefte ich mich gerne in meinen Weltatlas und versuchte mir die Umrisse von afrikanischen und asiatischen Ländern zu merken. Die exotisch klingenden Städtenamen ferner Länder faszinierten mich und ich versuchte mir vorzustellen, wie es dort wohl aussehen könnte. Im Alter von 17 Jahren (1974) buchte ich zusammen mit einem Freund meine erste Flugreise, für den Kauf des Flugtickets brauchte ich die Unterschrift meiner Eltern. Sie willigten ein – obwohl es ihnen nicht leicht gefallen ist – und so begann ein aufregender 5-tägiger Aufenthalt in Athen und auf der Halbinsel Peloponnes. In den Abendstunden waren wir oft auf dem zentral gelegenen Syntagmaplatz zu finden, einem Treffpunkt für Einheimische und Touristen aus aller Welt. Hier lernten wir einen jungen Griechen kennen, der uns von seiner Reise nach Indien erzählte und wie sehr ihn dieses Land beeindruckt hatte. Er wollte ein weiteres Mal dort hinfahren, um Hatha-Yoga zu erlernen. Wir trafen ihn täglich an der gleichen Stelle, mit verklärtem Gesicht in der Abendsonne sitzend. Seine Erzählungen machten uns immer neugieriger, wir hingen förmlich an seinen Lippen. Indien hatte mich persönlich schon lange vor diesem Erlebnis begeistert, vor allem interessierte ich mich für die indische Sitar-Musik. 

Zurückgekehrt nach Deutschland, sah ich einige Monate später im Fernsehen Ausschnitte des berühmten Woodstock-Festivals mit Auftritten des weltbekannten indischen Sitarspielers Ravi Shankar, was meine Begeisterung für diese Musik noch steigerte. In jenen Jahren strebten viele indische Weisheitslehrer in die westlichen Industrieländer und offerierten den religiös orientierungslosen und enttraditionalisierten, hauptsächlich jüngeren Teilen der Bevölkerung, ihre Philosophien für ein sinnerfülltes Leben. Unterstützt wurde diese Entwicklung noch durch die Neigung einiger Popstars, spirituelle Hilfe für ihr Leben bei indischen Gurus zu suchen. Viele Jugendliche öffneten sich damals den geistigen Sichtweisen des Ostens, weil sie in der hypermateriellen Welt des Westens keine Erfüllung mehr fanden. Dieser Umstand löste eine große Reisewelle Richtung Osten aus. Zwischen 1970 und 1980 fuhren zahlreiche Busse von London, aber auch von Deutschland aus über Istanbul, Teheran, Kabul, Peshawar bis nach Neu-Delhi. Mein Wunsch in dieses Land zu fahren wurde immer drängender. Nach dem Ende meiner Ausbildungszeit zum Industriekaufmann in der Schiffswerft Braun in Speyer, arbeitete ich noch drei Monate in der dortigen Motorbootabteilung, um das Geld für meinen ersten Trip nach Indien zusammen zu bekommen. Da mir nur zwei Monate zur Verfügung standen, hätte die Reise über Land zuviel Zeit in Anspruch genommen und so buchte ich ein Flugticket bei SAS (Scandinavian Airlines System), DM 531,-- kostete der einfache Flug nach Neu-Delhi. 

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Meine Zeit in Indien

03. April 1976 Frankfurt Flughafen. Ich verabschiede mich von meinen Eltern, die sich bemühen, ihre Sorgen, die sie sich um mich machen, zu verbergen. Aufgeregt besteige ich das Flugzeug, Dreierreihen auf jeder Seite, ich habe einen Fensterplatz. Sieben Stunden Flug liegen vor mir. 

 

mit dieser SAS-Maschine fliege ich nach New-Delhi (SAS = Scandinavian Airlines System)

 

Der Flugkapitän begrüßt uns, wir rollen auf die Startbahn, das "Abenteuer" kann beginnen. In diesem Moment kommen mir viele Bilder in den Sinn, meine Eltern und die vielen Freunde, die ich jetzt für längere Zeit nicht sehen kann. Das Flugzeug startet und hebt ab, nach wenigen Minuten haben wir den Frankfurter Flugraum verlassen. Während des Flugs lerne ich John, einen Amerikaner kennen, der Verwandte in Deutschland besucht hat und nun von hier aus ebenfalls nach Indien möchte, um dieses eindrucksvolle Land kennenzulernen. Wir unterhalten uns. Später ergibt sich noch ein Gespräch mit einem jungen Inder, der in Deutschland studiert und seine Eltern in Neu-Delhi besuchen möchte. Wir wollen so viel wie möglich über Indien erfahren, er ist sehr freundlich und beantwortet geduldig alle unsere Fragen.

Ankunft Neu-Delhi Airport am 04. April gegen 3 Uhr morgens. Etwas ängstlich klettere ich aus dem Flugzeug, ich bin hellwach! Die extrem schwüle Hitze mitten in der Nacht lässt erahnen, wozu ein indischer Sommer in der Lage ist. John und ich beschließen, die Stunden bis zur Morgendämmerung im Flughafengebäude zu schlafen. Wir sind nicht allein, überall schlafen Passagiere und warten auf ihre Flüge. Frauen mit Saris und Männer mit weißen Bärten und Turbanen fallen mir besonders auf, ich betrachte sie intensiv und kann meine Augen kaum von ihrem exotischen Aussehen lösen. Die nächsten drei bis vier Stunden schlafe ich kaum, ich bin gedanklich zu sehr damit beschäftigt, was mich an diesem Tag erwarten wird.

Diese Aufregung führt dazu, dass ich mehr ticce. Meine Tourette-Erkrankung war damals noch nicht diagnostiziert, ich befand mich immer noch in der Situation nicht genau zu wissen, was eigentlich mit mir los ist. Noch 10 Jahre sollten bis zur richtigen Diagnosestellung vergehen. Wie werden die Inder auf meine Tics reagieren? Wie werde ich die indischen Sommertemperaturen vertragen? Ich wäre gern in den Wintermonaten, also zwischen November und Januar nach Indien gereist, aber ab September wollte ich wieder zur Schule, um die Fachhochschulreife Wirtschaft/Volkswirtschaft zu erlangen. Ab Mai/Juni wird es noch heißer und dann fängt auch in einigen Landesteilen die Monsunzeit an mit bekanntermaßen katastrophalen Regenfällen, die touristische Unternehmungen erheblich behindern können.

Noch etwas ist sicher erwähnenswert! Eigentlich wollte ich nicht alleine nach Indien fahren, ich habe mich mehrere Monate bemüht, Freunde für eine Mitreise zu gewinnen. Doch leider scheiterte es entweder an Zeit- oder Geldproblemen. Nach längeren Überlegungen entschloss ich mich alleine zu fahren, obwohl ich vor dem Alleinsein so fern der Heimat etwas Angst hatte.

Nun war ich also hier in Neu-Delhi. Um ein Hotelzimmer brauchte ich mich vorerst nicht zu kümmern. Eine indische Krankenschwester, die ich einige Monate vor meiner Abreise in Speyer kennengelernt hatte, hatte mir angeboten, für die erste Zeit bei ihrem Bruder in Alt-Delhi zu wohnen. Das war für den Start in Indien ein großer Vorteil, wie sich später herausstellen sollte, denn dort bekam ich viele hilfreiche Tipps für meine Reiseroute, und ich konnte mich schon etwas mit den Sitten des Landes vertraut machen.

 

Eingang Flughafengebäude New-Delhi Airport  

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Mein "american friend" und ich beschlossen gemeinsam ein Taxi zu mieten, um nach Alt-Delhi zu fahren; John vermutete dort eher als in Neu-Delhi, ein günstiges Hotel zu finden. Nachdem wir gegen sieben Uhr aus dem Flughafengebäude heraustreten, stürmen etwa 10 Taxifahrer auf uns zu, jeder will uns fahren. Wir hatten uns vorher erkundigt, wieviel Rupies es kosten sollte, sie verlangen alle den doppelten Preis. Wir fragen bestimmt noch weitere 20 Taxifahrer, sie haben anscheinend ihre Preise vorher abgesprochen und lassen nicht mit sich handeln. Frustriert machen wir so, als ob wir laufen wollten, und das wirkt! Mehrere Taxifahrer rennen uns hinterher, plötzlich bieten sie uns einen deutlich günstigeren Tarif an, wir sind einverstanden. Wir steigen in einen alten Dodge ein, die Sitze sind mit knallrotem Leder bezogen und von der Hitze total heiß. Höchst unangenehm, mit kurzen Hosen. Nach ca. 25 Minuten Fahrt kommen wir in Alt-Delhi an und ich verabschiede mich von John. Wir wünschen uns gegenseitig eine gute Zeit und interessante Erlebnisse.

Ich betrete das Haus "meiner indischen Familie" (Mann/Frau und ein Baby und zwei jüngere Brüder des Mannes). Sie begrüßen mich sehr freundlich und bemühen sich während meines Aufenthaltes in jeder Hinsicht um mein Wohlbefinden. Ihre Gastfreundschaft überrascht mich, sie kannten mich vorher nur durch Briefe der Schwester aus Speyer. Es gäbe in meinem Land bestimmt nicht so viele, die einen fremden Menschen einfach so zwei Wochen bei sich aufnehmen würden.  

 

Straßenszene in Old-Delhi

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In den folgenden Tagen habe ich mit der indischen Hitze zu kämpfen, die Temperaturen steigen in der Mittagszeit bis auf unbeschreibliche 42° – 46° Celsius. Zwischen 11 und 15 Uhr kommt  das öffentliche Leben fast zum Erliegen. Diese Zeit verbringe ich unter dem Ventilator in meinem Zimmer und unternehme nichts außer dem Versuch, diese schwüle Hitze auszuhalten. Und ich trinke natürlich viel, entweder indischen Chay (Schwarztee mit viel Milch und Zucker) oder ein Getränk mit Orangengeschmack, welches mir meine freundlichen und besorgten Gastgeber immer in einem offenen Glas reichen. Ich dachte dabei immer an eine Art Orangenlimonade aus der Flasche. In jedem Reiseführer über Indien wurde davor gewarnt, unabgekochtes Leitungswasser zu trinken und daran wollte ich mich auch strikt halten. Am dritten Tag bemerkte ich, wie das "Orangengetränk" hergestellt wurde. Es handelte sich um Orangensaftkonzentrat, welches mit Wasser – oh mein Gott dachte ich – direkt aus dem Wasserhahn zubereitet wurde. Ich hatte bereits literweise davon getrunken. Bis abends ging es mir auch noch relativ gut. Nachts schliefen wir alle auf dem Dachgarten, weil dort die Temperaturen erträglicher waren als in der Wohnung. Nach Mitternacht wachte ich plötzlich auf, mir war total übel. Ich hatte das Gefühl mich übergeben zu müssen und wollte zur Toilette hinunter in die Wohnung gehen. Auf dem Weg dorthin wurde ich plötzlich ohnmächtig und stürzte die betonierten Treppen hinunter. Kurze Zeit darauf kam ich wieder zu Bewusstsein und bemerkte eine tiefe Platzwunde an meinem Hinterkopf. In der Toilette angekommen musste ich erbrechen bei gleichzeitigem Durchfall. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich fühlte mich elend. Dieser Brechdurchfall dauerte mit Pausen einige Stunden, bis Magen und Darm völlig entleert waren. Als diese Torturen etwas nachließen, untersuchte ich vorsichtig meine Kopfwunde, die soweit aufgeplatzt war, dass ich den Finger in den Riss meiner Kopfhaut hineinschieben konnte. Was sollte ich tun? Am nächsten Morgen begab ich mich in eine Free Clinic in Neu-Delhi, in der Patienten kostenlos behandelt werden. Die Wunde wurde genäht. Ein Arzt versorgte meine Verletzung mit drei oder vier Stichen. Irgendwie fühlte ich mich im wahrsten Sinne des Wortes angeschlagen.

In den darauffolgenden Tagen hatte ich Schwierigkeiten, mit den alltäglichen indischen Verhältnissen zurecht zu kommen. Die Straßen waren so voller Menschen, wie ich es von zu Hause nur nach großen Festumzügen kannte. Die Verkehrsbusse waren meistens total überfüllt, so dass ich mich entschloss, für die großen Entfernungen innerhalb der Millionenstadt Delhi die dreirädrigen Motor-Rikschas zu benutzen. Auch das Essen bereitete mir zunehmend Probleme. Es war meistens scharf ohne Ende. Es "brannte" dreimal, einmal im Mund, dann im Magen und dann nochmal auf dem WC. Zu alledem kamen die vielen neuen optischen und akustischen Reize dieser exotischen Welt. Unter den geschilderten Bedingungen verschlimmerte sich mein Tourette-Syndrom (TS) deutlich. Zu diesem Zeitpunkt meines Indienaufenthaltes dachte ich sogar darüber nach, meine Reise abzubrechen und wieder nach Hause zu fliegen. Eine Nachfrage bei der für mein Ticket zuständigen Fluggesellschaft ergab jedoch, dass eine Umbuchung derzeit nicht möglich wäre, die Flüge selbst wären schon seit Wochen im voraus ausgebucht. Was tun, also doch hier bleiben und die Herausforderung annehmen? Ich entschied mich für letzteres und habe es nicht bereut.

In den nächsten Tagen fahre ich kreuz und quer durch Neu-Delhi. Im Herzen dieser zwischen 1912 und 1929 von den Briten südlich von Alt-Delhi erbauten und großzügig angelegten "Neustadt" liegt der Connaught Place, in der unmittelbaren Umgebung beeindrucken breite Alleen, Parks und prächtige Bauten im Kolonialstil. Die feierliche Einweihung Neu-Delhis fand 1931 statt und löste Kalkutta als Hauptstadt Indiens ab. Aus der Hektik dieser großen Stadt flüchte ich bis zu meiner Abreise in den Süden Indiens häufig in den wunderschönen Lakshmi-Narayan-Tempel. Die an diese hinduistische Tempelanlage angrenzenden Gärten schützen die Besucher vor dem Verkehrslärm und der fast unerträglichen Luftverschmutzung. Im Innern des Lakshmi-Narayan, den auch Touristen betreten dürfen, wird an Nachmittagen häufig religiöse Musik dargeboten.  

Zum Staunen bringen mich immer wieder die indischen Kühe, die in der hinduistischen Mythologie als heilig gelten. Auch beim allergrößten Verkehr stehen sie in der Mitte von belebten Straßen oder auf Kreuzungen und schauen dem Treiben um sich herum mit fast gleichgültiger Gelassenheit zu. Busse, Autos, Motorräder, Rikschas, alle fahren vorsichtig an den Kühen vorbei, denn eine Verletzung oder Tötung dieser heiligen Tiere wird als schweres Verbrechen angesehen. Die Frage, die es nun hier zu beantworten gilt, ist, wie es zur Verehrung dieser Tiere kam! Sie geht meines Wissens auf den Gott Krishna zurück, der achten Inkarnation von Vischnu. Krishna wurde als Kind ausgesetzt und war ohne Überlebenschance. Eine Kuh soll dem hungernden Kind ihre Euter zum Trinken angeboten haben, wodurch Krishna überlebte. Aus dieser Überlieferung heraus entstand die besondere Achtung der Hindus vor Kühen. Außerdem verwenden sie den getrockneten Dung  als Brennmaterial, die Milch wird zu Milchprodukten verarbeitet. Ich traf in den verschiedensten Gegenden Indiens immer wieder auf große Molkereien, die ihre Milch regional und überregional vermarkteten, aber auch direkt an die Bevölkerung verkauften. Die Häute werden auch verwendet, aber erst, wenn die Kühe eines natürlichen Todes gestorben sind. Ein Inder erzählte mir, dass die alten und gebrechlichen Tiere in eine Art von Altersheim gebracht werden, um in Ruhe und Würde sterben zu können. Ihre Ernährung ist allerdings nach meinen Eindrücken nicht immer so gesichert, vor allem in den Millionenstädten. Ihre Genügsamkeit ist jedoch beeindruckend, nicht selten sah ich sie Bananenschalen verzehren oder auch auf Kartonagen herumkauen.

Nachfolgend noch ein paar Worte zu Krishna, dem gefeierten Helden der indischen Mythologie:

"Um diese Gottheit ranken sich viele Fabeln, Legenden und Geschichten. Im Mahabharata, einem umfangreichen indischen Heldenepos (106 000 Verse in 18 Büchern), in dem es hauptsächlich um die Auseinandersetzungen zwischen den Familien der 'bösen Kauravas' und den 'tugendhaften Pandavas' geht, ist er eine herausragende Gestalt. In der Bhagavad-Gita, einem Teil der Mahabharata (6. Buch) und eine der berühmtesten Schriften des Hinduismus, gibt er als "der Göttliche" Arjuna seine Unterweisungen. Arjuna, einer der fünf Pandava-Brüder und Beispiel für einen spirituell strebenden Menschen, spricht Krishna darin als höchstes, universales Bewusstsein an. Die Krishna-Bewegungen in den westlichen Industrieländern haben ihre Wurzeln ebenfalls in der Verehrung der Aussagen Krishnas in diesen historischen Texten. Zur Entstehung des Mahabharata sei noch folgendes erwähnt: "Als Verfasser gilt der mythische Weise Vyasa, doch haben zwischen dem 5. Jh. vor Christus und dem 2. Jh. nach Christus zweifellos eine große Zahl von Autoren und "Ordnern" an dem Werk gearbeitet, in das nach und nach der größte Teil  des indischen Volksgutes an Göttersagen, Fabeln und märchenhaften Erzählungen Aufnahme fand."

Ein besonderes Erlebnis ist der Besuch des Gandhi-Memorial in Delhi. Nach dem tödlichen Attentat am 30.01.1948 wurde in einem parkähnlichen Areal eine Gedenkstätte aus schwarzem Marmor errichtet (rechteckig und podestartig, Höhe ca. einen halben Meter), die an diesen großartigen Menschen und Vorbereiter der Unabhängigkeit Indiens erinnert. Blütenblätter und Blütenkränze schmücken die schwarzen Marmorflächen, Räucherstäbchen brennen. Am Todestag des "Vaters der Nation" kommen Zehntausende von Pilgern zu dieser Gedenkstätte. Ich habe mich schon Jahre zuvor mit dem Leben von Mahatma Gandhi beschäftigt und stehe ergriffen und voller Respekt an diesem Platz (Mahatma: Sanskrit, von großem Selbst/auch große Seele - indischer Ehrentitel). Ich verweile mehr als zwei Stunden dort, um die besondere Ausstrahlung dieses Ortes in mich aufzunehmen. Danach besichtige ich noch Jama Masjid, die größte Moschee Indiens, die 1650 nach sechs Jahren Bauzeit von Shahjahan (Erbauer des Taj Mahal in Agra) eingeweiht wurde. Die Minarette sind 40 Meter hoch und erinnern beeindruckend an die Zeiten der Mogulherrschaft.

Indien selbst erschließt sich mir immer deutlicher als multireligiöses Land. Die größte Bevölkerungsgruppe wird von den Hindus gebildet, den zweitgrößten Anteil an der Bevölkerung stellen die Muslime. Der Rest verteilt sich auf Christen, Sikhs, Buddhisten, Jainas, Parsen und Juden. Der größte Teil der Juden ist, wie ich später im Südwesten Indiens in Gesprächen mit indischen Juden erfahren kann, jedoch bereits in den unmittelbar zurückliegenden Jahrzehnten nach Israel ausgewandert.

Bevor ich nun mit meinem Reisebericht fortfahre, möchte ich noch ein paar statistische Angaben machen: Indien ist der siebtgrößte Flächenstaat (3 287 263 km²) der Erde und hat eine Nord-Süd-Ausdehnung von 3200 km und eine West-Ost-Ausdehnung von 2700 km. Das Land ist in 25 Unionsstaaten aufgeteilt, die Amtssprachen sind Hindi und Englisch, daneben gibt es weitere 14 Haupt- und Regionalsprachen und eine Vielzahl von Dialekten. Seine Unabhängigkeit von Großbritannien erhielt Indien am 15. August 1947. Die Währung ist die indische Rupie (100 Paisa), die Zeitverschiebung zur mitteleuropäischen Zeitzone: + 4 ½ Stunden.

Im Laufe der Zeit gewöhne ich mich mehr und mehr an die indischen Verhältnisse. Viele Inder sprechen Englisch und sind sehr kontaktfreudig. Häufig werde ich spontan gefragt: Where do you come from?, What is the purpose (Grund) of your visit?, How do you like India?, What are your parents doing?, How old are you? Wenn ich sage, dass ich erst 19 Jahre alt bin, dann höre ich des öfteren: Oh, you must be a rich man, that you can travel so far! Ich versuche dann immer deutlich zu machen, dass ich für die Reise nach Indien lange sparen musste und dass ich zu Hause nicht zur Schicht der Reichen gehöre. So richtig glauben können das aber viele meiner Gesprächspartner nicht, denn für sie wäre es undenkbar, Indien überhaupt zu verlassen.

Von Delhi aus mache ich einige Sightseeing-Touren. Zuerst fahre ich mit dem Bus (4 Stunden) nach Agra, im 16. und 17. Jahrhundert Hauptstadt des Mogulreiches und weltberühmt für das Taj Mahal, ein in weißem Marmor errichtetes Mausoleum, das von Großmogul Shahjahan 1631-48 für seine jung verstorbene Lieblingsfrau Mumtaz Mahal errichtet wurde, und in dem später auch der Herrscher selbst seine letzte Ruhestätte fand. Das Taj Mahal mit seinem Kuppeldach und seinen vier Minaretten ist einfach überwältigend schön und zählt zu recht zu einem der Weltwunder. Einige Tage später fahre ich wieder mit dem Bus 5 Stunden von Delhi aus in südwestliche Richtung nach Jaipur, der rosaroten ehemaligen Fürstenhauptstadt Rajasthans. Die Häuser in der Altstadt haben alle eine rosarote Farbe, so ist sie als "Pink City" international bekannt geworden. 

 

   Jaipur

 

   Jaipur

 

Ihren Namen, ihre Entstehung und Planung verdankt die Stadt Maharadscha Jai Singh, der ein begeisterter Astronom war und Jaipur nach den Sternen ausrichten ließ. Einen unvergesslichen Anblick bietet mir noch das berühmte Hawa Mahal, das als "Palast der Winde" bekannt wurde. Dieses Gebäude, erbaut im Jahre 1799, hat 953 Fensternischen auf 5 Etagen. Von hier aus war es den Haremsdamen möglich, die vorbeiziehenden Festzüge, ungesehen von der Bevölkerung, anzuschauen.

Vor meiner Weiterfahrt über Ajmer nach Puschkar besuche ich noch das 11 Kilometer von Jaipur entfernte Amber, die alte Hauptstadt Rajasthans. Auf dem Rücken eines Elefanten gelange ich zu dem auf einer Anhöhe gelegenen Amber Fort, einer traumhaft schönen Palastanlage, die hinduistische und islamische Bauelemente aus mehreren Epochen in sich vereinigt. Amber Fort diente über sechs Jahrhunderte als Herrschersitz der Kachwalas.  

 

   Innenhof Amber Fort

Hier ein Elefant, der zahlende Gäste in ca. 10-15 Minuten zum Amber Fort bringt. Auf meine Nachfrage wurde mir versichert, dass diese Tiere sehr gut behandelt werden; sie bekommen gutes Futter und ausreichend Wasser, außerdem werden immer wieder Ruhepausen eingelegt.

 

   Eingang Amber Palace

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Wie bereits angekündigt, geht es dann weiter über Ajmer nach Puschkar. An diesen Ort pilgern Hindus zur Verehrung des Gottes Brahma. In einem heiligen See in der Ortsmitte nehmen die Gläubigen rituelle Bäder. Puschkar wird - so berichtet mir ein Einheimischer – auch "Peacock-City" genannt, die Stadt der Pfauen. Tatsächlich sehe ich schätzungsweise 100 dieser Tiere, bis weit in die Nacht sind ihre typischen Rufe zu hören. 

Mein letzter Kurztrip von Delhi aus führt mich in den Norden nach Mussooree, einer Kleinstadt am Fuße des Himalaja und danach in die Hindupilgerorte Hardwar und Rishikesh am Ganges. Mussooree fällt im Stadtkern optisch besonders durch viele grün angestrichene Häuser auf. 

 

   Mussooree

 

Es ist empfindlich kühl und regnerisch. Auf der Weiterfahrt sehe ich immer wieder Menschen, die bei diesen niedrigen Temperaturen ohne Schuhe unterwegs sind. Ein Arzt, der im gleichen Bus unterwegs ist, erklärt mir, dass viele Bewohner dieser Bergregion kein Geld hätten, Schuhe zu kaufen, auch fehle vielerorts die Möglichkeit, in der kalten Jahreszeit entsprechend zu heizen, wie das beispielsweise in Europa üblich ist. Diesen Luxus könnten sich hier nur die Wohlhabenden erlauben. All diese Umstände führten dazu - so berichtet er weiter – dass beispielsweise chronische Erkrankungen der Atemwege hier sehr verbreitet sind.

Einige Zeit später dann Ankunft in Rishikesh (Ort der Seher, gilt in Indien als "Hauptstadt des Yoga") am Oberlauf des Ganges, das wegen seiner zahlreichen Ashrams und Yogazentren bekannt geworden ist. Hierher kommen viele Europäer, um Yoga und Meditation zu erlernen oder auch, um sich intensiv mit der hinduistischen Philosophie auseinander zu setzen. 

 

   Rishikesh am Oberlauf des Ganges

 

In westlichen Ländern wurde Rishikesh außerdem durch die Beatles zu einem Begriff, die dort ihren Guru Maharishi Mahesh Yogi besuchten. Ich beschließe, zu den Ufern des Ganges hinunter zu gehen. 

 

 

Am Wegesrand sitzen einige Sadhus, indische Wandermönche, die auf jeglichen Besitz verzichten und von dem leben, was Pilger ihnen an Geld oder Essen geben. Weiter unten liegen links und rechts des Weges Leprakranke auf dem Boden, die laut schreien, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie erbitten Geld für ihren Lebensunterhalt, denn selbst versorgen können sie sich nicht mehr. Einigen fehlen nicht nur die Beine, sondern auch zusätzlich noch ein oder beide Arme. Es ist fürchterlich anzusehen. Ich bin schockiert und verzweifelt, angesichts so viel menschlichen Elends. An den Ufern des Ganges angekommen, beobachte ich die indischen Pilgerinnen und Pilger bei ihren rituellen Handlungen. Sie haben nichts dagegen, dass ich sie dabei beobachte, ja sie winken mir sogar und lächeln mir zu.

Ich bin beeindruckt von der gelebten Religiosität der Hindus, von der hingebungsvollen Verehrung, die sie ihren Gottheiten entgegenbringen. Anschließend fahre ich weiter nach Hardwar. Auch in diesem Pilgerort am Ganges erlebe ich die Zelebrierung hinduistischen Glaubens mit einer Intensität, die mich nachdenklich macht und zwangsläufig Sinnfragen für mein eigenes Leben und meine religiösen Überzeugungen aufwirft. Am späten Abend kehre ich erschöpft nach Delhi zurück.

Die ersten zwei Wochen sind nun fast schon vorbei, und ich bemühe mich um eine Fahrkarte für die geplante Zugfahrt nach Madras in den Süden des Landes. Es ist Ferienzeit und die Züge sind nahezu ausgebucht. Über Umwege erfahre ich, dass ein Ticket schon noch zu haben wäre gegen ein kleines Bakschisch (Gabe) in Form eines Hühnchens und 5 Flaschen Bier. In Gesprächen mit anderen Travellern erfahre ich von einer Regierungsstelle, die sich um Touristen mit Ticketproblemen kümmert. Ich habe Glück und erhalte in kurzer Zeit die gewünschte Fahrkarte. Am Abreisetag wache ich schon ganz früh auf, packe meinen Rucksack und mache noch letzte Einkäufe. Der Abschied von meinen netten Gastgebern fällt mir schwer, sie haben sich sehr um mich gekümmert. Trotz mancher Anfangsschwierigkeiten hatte ich eine gute und interessante Zeit in Delhi. Am späten Nachmittag bringt mich ein Taxi zum Bahnhof, Abfahrtszeit meines Zuges ist gegen 17.30 Uhr. Mein nächstes Ziel heißt Madras, die Hauptstadt des Unionsstaates Tamil Nadu an der Südostküste Indiens. Vor mir liegen ca. 2.200 Kilometer, das bedeutet zweimal im Zug übernachten; die voraussichtliche Ankunft ist am frühen Abend des dritten Reisetages.

Als ich den Zug betrete, ist er schon ziemlich voll. Ich habe ein Ticket mit "Sleeper", das ist eine Sitzgelegenheit zusammen mit einer oberhalb der Sitze herunterklappbaren hölzernen Liege. Ungefähr eine halbe Stunde später als vorgesehen setzt sich der Zug in Bewegung und rollt ganz gemächlich aus dem Bahnhof hinaus. Mit diesem gemütlichen Tempo verlassen wir das Stadtgebiet von Delhi. An jeder weiteren Haltestation steigen viele neue Passagiere ein, in wenigen Stunden ist der Zug total überfüllt. Die Fahrgäste stehen auf den Gängen und in den Bereichen zwischen den Waggons, in den Abteilen für 6 Personen drängen sich teilweise bis zu zwölf Passagiere. Dazu kommt noch die schwüle Hitze. So richtig begeistert bin ich von den Reisebedingungen nicht. Unter diesen Umständen geht natürlich meine Ticfrequenz deutlich nach oben, es gibt – außer auf der Zugtoilette - so gut wie keine Rückzugsmöglichkeiten. Mein Gehirn dirigiert sein wildes Konzert nach Belieben. So wie es aussieht bin ich auch der einzige westliche Ausländer im Zug und mit meinen motorischen und vokalen Tics schon eine kleine Attraktion und ziehe dadurch viele Blicke auf mich, was mir, ehrlich gesagt, gar nicht recht ist. Manche der Fahrgäste betrachten mich mehrere Minuten lang und beobachten jede meiner Handlungen. Je länger wir aber gemeinsam unterwegs sind, umso mehr zeigt sich, wie viele freundliche und zuvorkommende Menschen unter den Passagieren sind. Auch habe ich es in den zwei Monaten meines Aufenthaltes in Indien nie erlebt, dass sich die Bevölkerung über meine Tourette-Erkrankung in irgendeiner Form lustig gemacht oder mich imitiert hätte.

Für die Reise hatte ich mir ausreichend Proviant gekauft, aber es wäre eigentlich nicht nötig gewesen. Auf den meisten Bahnhöfen sind eine große Zahl von fliegenden Händlern unterwegs. Selbst mitten in der Nacht werden Essen, Getränke und Früchte angeboten. Es ist auch nicht nötig den Zug zu verlassen, den Fahrgästen wird das Gewünschte durch die Zugfenster gereicht. Coffee - Coffee – Chay - Chay – Coffee – Coffee ruft laut und fordernd ein ungefähr 10 Jahre alter Junge. One Chay please, sage ich zu ihm (Chay: Schwarztee mit viel Milch und Zucker). Auf Kinderarbeit treffe ich überall in Indien. Kinder arbeiten oft in Restaurants, helfen dort beim Abspülen, Wegräumen oder sie bringen bestellte Getränke oder Essen in umliegende Geschäfte. Viele Jugendliche sind auch in der Nähe von Sehenswürdigkeiten zu finden, dort bieten sie entweder Führungen an oder versprechen den Touristen, sie an jeden gewünschten Ort zu bringen. Einerseits staune ich über die Ernsthaftigkeit und Professionalität, mit der sie ihren Jobs nachgehen, andererseits tun mir diese Kinder und Jugendlichen leid, die schon in jungen Jahren gezwungen sind, zur finanziellen Versorgung ihrer Familien beitragen zu müssen.

Je weiter wir in den Süden des Landes kommen, umso grüner und üppiger wird die Vegetation. Am dritten Tag gibt es kein Wasser mehr im Zug, die Toiletten sind verstopft. Ich sehne mich nach einer Dusche und einem richtigen Bett. Nach der Ankunft in Madras und der Hotelzimmersuche ist erst einmal Ausruhen angesagt. Madras ist ein bedeutender Hafen an der Ostküste und hat einen internationalen Flughafen. Metallverarbeitung, Fahrzeugbau, Erdölraffinerie, Elektro-, Textil-, Tabak- und Nahrungsmittelindustrie und Teppichknüpferei machen diese aufstrebende Stadt zu einer pulsierenden Metropole. Nach zwei Tagen des Ausspannens und nachdem die Lebenskräfte wieder zurückgekehrt waren, besuche ich von Madras aus die ca. 70 km entfernt liegende Tempelstadt Kanchipuram. Eine weitere Tagestour führt mich nach Mahabalipuram, 60 km südlich von Madras, der Wiege der drawidischen Tempelbaukunst Südindiens. Dieser kleine Ort an der Koromandelküste im Golf von Bengalen wurde bereits im 7. Jh. als Hafenstadt des Pallavareiches gegründet. Mein Mittagessen nehme ich an diesem Tag in einem sehr speziellen Restaurant ein. Bevor die Gäste den Speiseraum betreten dürfen, müssen sie an der Kasse den Preis für das Tagesgericht – es gibt nur eines – entrichten. Auf den Tischen des Restaurants liegen mit Wasser gereinigte und in der Mitte zusammengefaltete  Bananenblätter. Nachdem die Gäste Platz genommen haben, kommen zwei Mitarbeiter des Restaurants mit zwei Bottichen auf fahrbaren Untersätzen herein und verteilen das Essen. Einer holt mit einem runden Behältnis aus seinem Bottich Reis heraus, streift, was zuviel ist blitzschnell am Bottichrand ab und setzt es dann mit Schwung auf das mittlerweile aufgeklappte Bananenblatt. Der andere komplettiert das Essen mit scharfem eingelegten Gemüse, welches er mit einem Schöpflöffel neben den Reis serviert. Besteck gibt es nicht, ich esse so wie alle anderen auch mit den Händen. Nach dem Ende des Mittagessens fällt kein Geschirr an, die Bananenblätter werden weggeworfen. Das Essen hat mal wieder ein Feuer in meinem Bauch entzündet. Ich hoffe, dass ich mich an das scharfe Essen noch gewöhnen werde. 

Nachmittags liege ich am Strand von Mahabalipuram, genieße die herrliche Sonne, schwimme ein wenig und esse zwei frische Kokosnüsse. Hier an der Ostküste, im Süden, wie auch an der Westküste Indiens, werden frische Kokosnüsse angeboten, die mehr als doppelt so groß sind wie die, die ich von zu Hause kenne und eine grünliche Farbe haben. Mit einem großen Messer und ein paar gezielten Schlägen wird der obere Teil entfernt, mit der Messerspitze brechen die geübten Händler dann ein fünfmarkstückgroßes Teil heraus, zum Trinken der Kokosmilch wird ein Strohhalm gereicht. Die frische Kokosmilch schmeckt vorzüglich und soll dem Magen gut tun. Wenn sie ausgetrunken ist, wird die Kokosnuss mit ein paar weiteren kräftigen Schlägen mit dem Messer halbiert, das weiche Kokosfleisch herausgelöst und in einer der beiden Nusshälften serviert. Eine Kokosnuss kostet 2 oder 3 Rupien (Währungsverhältnis 1976: 3,5 Rupien zu einer Mark) und macht – als Zwischenmahlzeit - für eine Stunde satt. Am späten Abend fahre ich mit dem Bus nach Madras zurück.  

 

   Waschtag in Madras

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Vor meiner Abreise aus Madras suche ich wegen meiner Kopfverletzung nochmal einen Arzt auf. Die Fäden werden entfernt, die Wunde ist gut verheilt. Mein nächstes Reiseziel ist das in südwestlicher Richtung liegende Madurai. Hier besichtige ich den etwa im Jahre 1650 im Zentrum der Stadt erbauten Meenakshi-Tempel, die größte hinduistische Tempelanlage Indiens. Einen monumentalen Eindruck machen die fünf großen Tortürme, der höchste ist 55 m hoch und mit 1055 einzelnen Götterfiguren und Fabelwesen geschmückt. Hier sind, wie auch in vielen anderen Tempeln der Hindus, freilebende Affen anzutreffen, die in Herden von bis zu 30 und 40 Tieren zusammenleben und nicht nur geduldet, sondern – und dies ist wieder aus der hinduistischen Mythologie heraus zu erklären – als heilig verehrt werden. Die Verehrung dieser Tiere erklärt sich aus dem Ramayana, einem weiteren großen Heldenepos Indiens, das mit 24.000 Doppelversen in sieben Büchern jedoch nicht so groß ist wie das bereits erwähnte Mahabharata.

Hier nun kurzgefasst der Inhalt des Ramayana: "Sita, die Gemahlin des indischen Prinzen und späteren Königs Rama, wird von dem zehnköpfigen Dämonenkönig Ravana auf die Insel Lanka entführt und mit Hilfe Hanumans (auch Hanumat), des göttlichen Anführers des Affenheeres, befreit." Hanuman, der Herr der Affen, gilt als Sinnbild für Treue. Die in Indien verehrte Affenart heißt Hanumanlangur:

"Hanumanlangur, Art der Schlankaffen; großer, langschwänziger Baumaffe, mit 15 Unterarten über den ganzen indischen Subkontinent verbreitet; Blattfresser mit entsprechend angepasstem Magen. Im Hinduismus ein als heilig verehrter Affe, der große Popularität genießt und als Wohltäter erscheint."

Die abenteuerlichen Begebenheiten, die das Ramayana ausführlich und dramatisch beschreibt, sowie die große Zahl herausragender Charaktere, die darin auftreten, wirken bis heute in den indischen Alltag hinein. Rama und Sita werden von den Hindus als Ideal des Mannes und der Frau verehrt. Als Verfasser des Ramayana gilt Valmiki, der erste namentlich bekannte Kunstdichter der indischen Literatur. Doch er hat dieses große Epos nicht alleine geschrieben, einige andere Autoren waren – so wird berichtet – an der Ausarbeitung ebenfalls noch beteiligt.

Mein nächstes Reiseziel ist Trivandrum an der Malabarküste, die Hauptstadt des Unionsstaates Kerala, südwestlich von Madurai gelegen. Im Zug dorthin lerne ich den Niederländer Jan kennen, wir verstehen uns auf Anhieb gut und sprechen viel über unsere Reiseerlebnisse in Indien. Spätabends kommen wir an und müssen noch auf Hotelsuche gehen. In der Bahnhofshalle von Trivandrum kommen zwei ca. 16jährige Mädchen mit strahlenden Gesichtern auf uns zu und hängen Jan und mir handgeflochtene Ketten aus Jasminblüten um den Hals. Wir schauen uns an und wissen nicht so recht, in welchem Film wir jetzt gelandet sind. Das Lächeln der beiden Mädchen lässt plötzlich nach und es zeigt sich schnell, dass sie keine Botinnen des Himmels sind, denn sie sagen alsbald was sie wollen: "You give us two Rupies for each, okay?" Wie das "Geschäft" eingefädelt wurde ist zwar nicht so ganz nach unserem Geschmack, trotzdem geben wir den beiden, was sie dafür wollen. Mit dem Duft der Jasminblüten in der Nase laufen wir ins Zentrum von Trivandrum und, nachdem jeder von uns sein Hotelzimmer bezogen hat, gehen wir noch  etwas spazieren. Die Nacht empfängt uns mit vielen weiteren exotischen Blütengerüchen, es ist schwülwarm. Wir essen noch eine Kleinigkeit in einem Restaurant. Am nächsten Tag beschließen wir mit dem Bus zu dem nicht weit entfernt liegenden Kovalam Beach zu fahren. Hier machen wir ein paar Tage lazy Strandurlaub, genießen den herrlichen Palmenstrand und essen von den vorzüglichen tropischen Früchten, die hier überall zu kaufen sind. Ich werde ein bißchen süchtig nach dem Geschmack frisch und reif geernteter Mangos, Ananas, Kokosnüssen und Bananen. Doch nach ein paar Tagen Strandleben erwacht wieder der Reisehunger in mir, auch wenn es hier noch so paradiesisch ist. Zu viele Ziele in Indien locken noch vor meiner Heimreise. Jan hat andere Reisepläne als ich und so trennen wir uns. Während meiner Zeit in Indien habe ich immer wieder junge Menschen aus vielen Ländern der Welt getroffen, die meisten kamen aus Europa, USA, Australien oder Neuseeland. Manchmal waren wir für ein paar Stunden oder Tage, manchmal auch für ein oder zwei Wochen gemeinsam unterwegs. Das zu Hause so gefürchtete Alleinsein in diesem fremden Land habe ich glücklicherweise nicht erleben müssen.

Vor meiner Abreise aus dem im Vergleich zu anderen indischen Städten ruhigen, ja fast beschaulichen Trivandrum, unternehme ich noch eine Tagesreise zum Kap Komorin (Cape Comorin), der Südspitze Indiens. Am Kap Komorin – ein den Hindus heiliger Ort -  treffen sich Golf von Bengalen, Arabisches Meer und der Indische Ozean. Von Trivandrum aus geht es in nördlicher Richtung in das 71 km entfernte Quilon (auch Kollam genannt). Quilon ist Ausgangspunkt für Bootsfahrten durch die faszinierenden Backwaters. Das sind Wasserkanäle, die parallel zur Meeresküste verlaufen. Die an diesen Kanälen liegenden Orte sind durch tägliche Fährverbindungen gut zu erreichen. Am frühen Morgen besteige ich ein Fährboot in Richtung Alleppey. 

 

   die Backwaters zwischen Quilon und Alleppey

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Die Fahrt ist ein einziger Traum: unberührte Wälder, kleine Dörfer, Reisfelder, Bananen- und Kokosplantagen ziehen vorüber. Die Einheimischen sind auf den Backwaters häufig mit ihren langgezogenen Booten unterwegs, die Fortbewegung funktioniert mit Hilfe von langen Holzstäben, mit denen sie sich auf dem Kanalboden abstoßen. Das Wasser kann nicht allzu tief sein, denn diese Boote sind überall in den Backwaters anzutreffen. In der festen Hoffnung auf fliegende Händler hatte ich vor meiner Abreise kaum Lebensmittel eingekauft. 

 

   Zwischenstopp auf der Bootsfahrt Quilon-Alleppey

 

Das war ein Fehler, wie sich bald herausstellte. Auf der ganzen Strecke gab es nur eine Einkaufsmöglichkeit, die angebotenen Esswaren sahen allerdings nicht mehr so frisch aus. Trotzdem, der Magen knurrte und ich musste etwas essen. Nach mehr als acht Stunden Bootsfahrt war allerdings das WC in meinem Hotel in Alleppey der vorerst bevorzugte Aufenthaltsort. Viele Globetrotter, die ich in Indien traf, berichteten mir, dass sie auch des Öfteren mit kleineren oder größeren Durchfallerkrankungen zu tun hatten. Vor allem in den ersten Wochen, bis sich der "westliche Verdauungsapparat" an die hiesigen Verhältnisse angepasst hätte. Am nächsten Morgen setze ich meine Fahrt in den Backwaters fort. Nach ungefähr sechs Stunden erreiche ich Kottayam. Ein kleiner Ort mit einem guten Restaurant. Der Tag ist gerettet.

Am nächsten Tag geht es weiter in die Städte Ernakulum und Cochin. Diese beiden Städte liegen dicht beianander, Ernakulum befindet sich jedoch auf dem Festland, Cochin dagegen erstreckt sich über mehrere Inseln wie Willingdon Island, Fort Cochin/Mattancherry, Bolghatty, Vypeen und Gundu. Zwischen den Inseln existieren gute Fährverbindungen. Eine direkte Straßenverbindung vom Festland her gibt es nur zu den beiden Hauptinseln Willingdon Island sowie Fort Cochin/Mattancherry.

Eine wirkliche Besonderheit sind die hiesigen Aufführungen der Kathakali-Tänze. Diese Tempeltänze, die sich auf die Heldenepen Ramayana und Mahabharata beziehen, dauerten bei traditionellen Festlichkeiten ursprünglich die ganze Nacht hindurch. In der heutigen Zeit dauern die farbenfrohen und mimikreichen Tanzaufführungen für Interessierte an dieser Tradition ca. 1 ½ bis 2 Stunden. Vor dem Beginn der Vorstellung ist es möglich, die Tänzer bei der komplizierten Schmink- und Ankleideprozedur zu beobachten. Eine gute Gelegenheit, die Künstler aus nächster Nähe zu erleben. Zwei Stunden vor Beginn der Vorstellung finde ich mich dort ein, die Kathakali-Tänzer wirken sehr gelassen und in sich ruhend; es ist beeindruckend, ihre Vorbereitungen für die nächste Darbietung mitanzusehen. Die Inhalte der anschließenden Aufführung sind für Nichteingeweihte nur sehr schwer zu verstehen und bedürfen der Erklärung durch Einheimische. Abgesehen von dieser Problematik sind diese Tänze jedoch eine prachtvolle Demonstration hinduistischer Traditionen.

Mein nächstes Reiseziel ist das Periyar-Tierschutzgebiet (Periyar Wildlife Sanctuary). Hier sollen noch Elefanten, Bisons, Leoparden und sogar einige Tiger in freier Wildbahn leben. Ich habe Glück und bekomme dort in einem Hotel noch eines der wenigen freien Zimmer. Nachmittags mache ich erste vorsichtige Erkundungen, ich entferne mich jedoch nicht zu weit von meiner Unterkunft. Am Abend zwingen mich die gnadenlosen Attacken der einheimischen Fluginsekten früh unter das Moskitonetz. In meinem Zimmer gibt es keinen Ventilator, den ich anstellen könnte, um die lästigen Moskitos zu vertreiben; so hatte ich mir in Südindien schon des Öfteren helfen können. Wind mögen diese kleinen Plagegeister nicht so sehr und so ist man weitestgehend geschützt, was allerdings auch heißt, das Geräusch des laufenden Ventilators die ganze Nacht hindurch ertragen zu müssen. Das ist gewöhnungsbedürftig und wenn man dann irgendwann genervt abschaltet, bekommen sie wieder ihre Chance. Das erste Mal beschleicht mich heftig die Angst vor den unangenehmen Folgen einer Malariaerkrankung, denn auch die Malariatabletten, mit deren Einnahme ich schon vor meiner Abreise begonnen hatte, bieten laut Auskunft eines Tropeninstituts in Deutschland keinen hundertprozentigen Schutz. Es gibt immer wieder Fälle trotz Malariaprophylaxe, wird mir mitgeteilt.

In der Nacht beginnt das Konzert der Tiere und ich kann nur sagen, dass ich derartiges nur aus Filmen kenne und persönlich noch nicht so erlebt habe. Die verschiedenen Rufe der vielen Tiere dieses Dschungelgebiets, das ununterbrochene Quieken, Quäken, Zirpen, Schnattern, Rasseln ist so laut, dass ich kaum einschlafen kann. Auch in den beiden folgenden Nächten gewöhne ich mich nicht daran. Ich kann damit zwar ein bißchen besser umgehen, von erholsamen Tiefschlafphasen bin ich allerdings weit entfernt. Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, mache ich zusammen mit anderen Touristen - auch einige Inder sind darunter – eine Bootsfahrt auf dem Periyar-Lake, doch leider bekommen wir keine der wilden Tierarten zu Gesicht. Am Nachmittag nehme ich noch an einer geführten Wanderung teil, doch die wilden Tiere halten sich gut versteckt. Warum sollten sie sich auch wegen einer Handvoll "Touris" exhibitionieren? Ich möchte allerdings nicht verschweigen, dass mich in Periyar immer eine gewisse Angst begleitet hat, denn die Möglichkeit, frei lebenden Leoparden oder sogar Tigern zu begegnen, hat mich, ehrlich gesagt, dann doch nicht so begeistert; dass diese Tiere sehr scheu sind und den Menschen eher meiden (außer vielleicht, wenn sie hungrig sind!), hat mich nur ein bißchen beruhigt.

Bei der geführten Wanderung lerne ich den Kanadier Mike und die Amerikanerin Rachel kennen. Jan aus den Niederlanden habe ich hier auch wieder getroffen, was mich sehr gefreut hat. Wir unternehmen zu viert einen kleineren Spaziergang, wollen uns aber nicht zu weit vom Hotel entfernen. Die Parkwächter warnen uns davor, etliche Touristen hätten sich hier auch schon verlaufen. Wir entdecken die Exkremente von Elefanten, den freundlichen Riesen begegnen wir jedoch nicht. Auf einem kleinen Fußpfad quillt plötzlich Blut aus den Schuhen von Jan, wir sind entsetzt. Nach dem Öffnen der Schuhe sehen wir, dass sich mehrere Blutegel zwischen seinen Zehen festgesaugt hatten, durch den Druck des Körpergewichts auf die Füße, wurde – so vermuten wir – bereits "gesaugtes Blut" wieder herausgepresst. Die Strümpfe und der ganze Innenschuh sind voller Blut, es sieht fürchterlich aus. Mike hat schon Tropenerfahrung und fragt, ob jemand Zigaretten dabei hätte. Die Amerikanerin bejaht. Hektisch entzünden wir eine davon und halten den brennenden Teil an das andere Ende eines Blutegels. Nach einigen Minuten Wartezeit lassen sich die so behandelten Blutegel aus der Haut herausziehen. Jan ist schockiert, aber er ist nicht lange allein damit. Mike hat festes Schuhwerk an, Rachel und ich tragen leichte Turnschuhe. Nach dem Öffnen unserer Schuhe – es ist zwar nicht ganz so schlimm wie bei Jan – bietet sich uns ein ähnliches Bild. Auch zwischen unseren Zehen haben sich Blutegel festgesaugt, die Strümpfe sind an mehreren Stellen blutdurchtränkt. Ein bißchen Panik befällt uns jetzt schon, mehrere Zigaretten werden entzündet, die zuvor beschriebene Prozedur wiederholt. Rätselhaft ist, wie diese Blutsauger unbemerkt in das Schuhinnere gelangen konnten. Wir nehmen an, dass sie das dünne Obermaterial unserer Schuhe irgendwie durchbohren konnten. Kurze Zeit später flüchten wir von diesem Ort, doch in der ganzen Aufregung gehen wir in die falsche Richtung – es sieht auch alles so gleich aus - erst nach einer Stunde finden wir den Weg zurück zu unserem Hotel.

Vom Periyar Wildlife Sanctuary geht es weiter nach Ootacamund, einem der bekanntesten Hill-Resorts auf 2280 m Höhe. Hierher zogen sich die Engländer (Indien war britische Kolonie bis 1948) in den heißen Sommermonaten zurück. Heute dient es immer noch als Sommerfrische, allerdings für wohlhabende indische Familien. Die Busfahrt dorthin über eine kurvenreiche Strecke bietet wunderschöne Ausblicke. Die höchste Erhebung dieses Gebirges mit seinen ausgedehnten Waldgebieten ist der 2633 m hohe Dodabetta. In dieser fruchtbaren Gegend Indiens werden Kaffee und Tee, außerdem Heilpflanzen, medizinische Kräuter und Gewürze angebaut.

Nach der Ankunft in Ooty, wie es auch genannt wird, habe ich Schwierigkeiten ein Hotel zu finden. Viele der anwesenden Gäste sind vor der Hitze des indischen Tieflandes für zwei oder drei Wochen hierher geflüchtet. In einem etwas heruntergekommenen "Guesthouse" ist noch ein Zimmer frei, die Wände sind aus Sperrholz, ich höre die Nachbarn husten und schneuzen. Bedingt durch die etwas unangenehme Wohnsituation mache ich während meines zweitägigen Aufenthaltes ausgedehnte Wanderungen. Außerhalb von Ooty gibt es viele Eukalyptusbäume, das leise Rascheln ihrer Blätter im Wind und der typische Geruch sind ein besonderes Erlebnis. In den hiesigen Geschäften entdecke ich später zahlreiche Produkte auf Eukalyptusbasis: Tee, Balsam und Öl werden für die verschiedensten Gesundheitsprobleme angeboten.

Von Ootacamund aus geht es mit dem Bus nach Mysore. Auf der mehrstündigen Fahrt hält der Busfahrer immer mal wieder für zwei oder drei Minuten an, um an speziellen, von Hindus verehrten Plätzen, Opfer darzubringen. Das können mal eine halbe Kokosnuss, Blütenblätter oder auch das Entzünden von Räucherstäbchen sein. Hier zeigt sich einmal mehr die tiefe Religiosität der Inder, obwohl diese kurzen Stopps – die ich im Übrigen in ganz Indien beobachten konnte – auch ganz alltägliche Gründe haben, wie zum Beispiel das Erbitten um eine sichere Ankunft. Das ist bei dem rasanten Fahrstil, den ich hier des Öfteren erlebt habe, durchaus sinnvoll und ich hoffe, dass die hinduistischen Gottheiten ihre schützenden Kräfte auch für einen Europäer entfalten.

Der Hinduismus ist eine sehr alte Religion, die ersten Anfänge liegen zwischen 1000 und 200 vor Christus. Die umfangreichen Schriften, die in dieser langen Zeitspanne entstanden sind, erschließen sich dem Interessierten nur in langem und geduldigem Studium. Es gibt viele verschiedene Gottheiten, die wichtigsten sind Brahma, Vishnu, Shiva, Krishna und Ganesh. Welchen Gott ein Hindu verehrt, ist seine freie Entscheidung, denn er wird den erwählen, von dem er sich am ehesten Hilfe erhofft. Die zahlreichen Gottheiten sind für die Hindus Ausdruck und Manifestationen der verschiedenen Aspekte des Göttlichen. Ein weiterer grundlegender Unterschied im Vergleich zu den monotheistischen Religionen ist, dass es keinen Stifter gibt, wie wir es vom Christentum, vom Islam oder vom Buddhismus her kennen. Auch der Missionierungsgedanke ist den Hindus fremd, ein Inder sagte mir in diesem Zusammenhang: "Hindu kann man nur sein durch Geburt." Abschließen möchte ich diesen Exkurs – die hier eingefügten Erläuterungen können angesichts der Komplexität dieser Weltreligion nur einen unvollständigen Eindruck vermitteln – mit drei weiteren wichtigen inhaltlichen Aspekten, deren Anerkennung einem Hindu traditionell auferlegt sind: Akzeptanz des Kastensystems (seit Mahatma Gandhi unternimmt der indische Staat jedoch intensive Versuche, dieses rigide soziale Gesellschaftssystem zu verändern), die Karmalehre, die besagt, dass sich alle guten und bösen Taten auf das nächste Leben auswirken und das Streben, durch persönliche Entwicklung und Erleuchtung den ewigen Kreislauf der Wiedergeburten zu beenden.

Nun zurück zu meinen Reisebeschreibungen. Ankunft in Mysore am späten Nachmittag. Die großzügig angelegten Straßen, Plätze und Alleen verleihen der Stadt ein majestätisches Aussehen, prunkvoller Mittelpunkt ist der berühmte Maharadscha-Palast, der von Krishnaraja Wodeyar IV. (1981 verstorben) in ein Museum und kulturelles Zentrum verwandelt wurde. Ich besichtige eine Seifenfabrik, die sich auf die Herstellung von Seifen mit der Duftnote "Sandelholz" (Sandalwood) spezialisiert hat. Die verwendeten Maschinen wirken sehr altertümlich, doch - wie man mir versichert – funktionieren sie einwandfrei, notwendige Reparaturen könnten alle selbst ausgeführt werden. Ich kaufe noch ein paar Sandelwoodsoaps und gehe wieder zurück in mein Hotel. Hier noch ein paar Informationen zum Sandelholz: 

"Nutzholz des im indomalaiischen Gebiet heimischen und kultivierten Sandelbaums (Santalum album); das weiße Splintholz wird für Schnitzereien, das gelbliche Kernholz für Räucherwerk, das aus ihm gewonnene Sandelholzöl in Medizin und Parfümerie verwendet."

In zahlreichen Geschäften von Mysore werden Sandelholzschnitzereien angeboten, die kunstfertig in Handarbeit hergestellten Götterfiguren, kleinen Kästchen für allerlei Aufbewahrungszwecke, Brieföffner, Fächer und vieles andere mehr, sind schöne Souvenirs und ein Markenzeichen Indiens. Ich kaufe eine geschnitzte Figur des Gottes Shiva und eine von Ganesh, dem Gott mit dem Elefantenkopf. Der Geruch des Sandelholzes weckt in mir heute noch viele Erinnerungen an meine Indienreisen und ist für mich persönlich untrennbar mit diesem Land verbunden. Nachfolgend noch ein paar Informationen zu den Gottheiten Shiva und Ganesh:

"Shiva (Sanskrit: "der Gütige, der Freundliche"), die dritte Gottheit in der Hindu-Trinität, in der er der Gott der Auflösung und Zerstörung ist. Shiva wird als Guru aller Gurus angebetet, als Zerstörer aller Weltlichkeit, der Weisheit gewährt (Zerstörer des Nicht-Wissens - Avidya/Nicht-Erkenntnis) und die Verkörperung von Entsagung und Mitleid ist."  

 

   Ganesh, Ganesha oder Ganapati (Sandelholzschnitzerei aus Mysore)

 

"Ganesh (auch Ganesha oder Ganapati, Sanskrit: "Herr der Schar"), im hinduistischen Pantheon der populärste Gott, Sohn Shivas und der Parvati, dargestellt als kleinwüchsiger, dickbäuchiger Mensch mit Elefantenkopf. Ganesh verkörpert Glück, Erfolg, Reichtum und Klugheit, als Überwinder aller Hindernisse wird er vor jeder bedeutenden Unternehmung angerufen."  

Wie kam Ganesh zu seinem Elefantenkopf? Dazu erzählte mir ein Inder folgendes: 

"Ganesh war in der Abwesenheit seines Vaters Shiva geboren worden und bewachte eines Tages seine Mutter Parvati, die ein Bad nahm. Shiva, der seinen Sohn vom Aussehen her nicht kannte, wollte seine Gemahlin Parvati aufsuchen und verlangte unverzüglich Einlass in das Bad. Ganesh verweigerte dies, worauf Shiva ihm den Kopf abschlug. Parvati kam heraus und das Geschrei war groß. Daraufhin wurde einem Elefanten der Kopf abgeschlagen und Ganesh aufgesetzt."   

 

Nächste Station ist Bangalore, die Hauptstadt des Unionsstaates Karnataka. Bangalore ist die sauberste und modernste Stadt auf meiner Reise durch Indien, hat ausgedehnte Parkanlagen und ein angenehmes Klima. Nach ein paar Tagen des Ausruhens geht es dann weiter nach Hospet in nordwestlicher Richtung zur Besichtigung der Ruinen von Hampi, der ehemaligen Hauptstadt des Vijayanagar-Reiches. Die über ein großes Areal verteilten steinernen Zeugen dieses mächtigen Königreiches (1336-1565) halten noch eine Besonderheit für mich bereit, und zwar den Vittala-Tempel mit seinen "musikalischen Säulen". Ein junger Inder schlägt mit einem runden Holz auf die einzelnen Steinsäulen, jede gibt einen anderen Ton ab. Während der Mittagszeit ist die Hitze groß, ich habe nur ein wenig Wasser und Erdnüsse dabei. Mit etwas Glück finde ich in der ausgedehnten Ruinenstadt ein kleines Geschäft, welches allerdings nur Bonbons, süße Getränke und Bananen zum Verkauf bereithält. Mit einem glibbersüßen Saft und einer Staude mit ca. 20 kleinen Bananen setze ich mich auf eine Bank in der Nähe unter eine Baumgruppe. Nach ein paar Minuten stehe ich auf, um etwas umherzugehen, plötzlich kommt ein kleiner Affe im Eiltempo den Baum neben meiner Sitzbank herunter, grabscht sich meine Bananen und verschwindet ebenso schnell wieder in den Baumwipfeln. Ich klatsche mehrere Male kräftig in die Hände, in der Hoffnung, dass der kleine Dieb seine Beute wieder fallen lässt, aber es hilft nicht. In den Baumkronen sehe ich, wie sich eine  Horde Affen - aufgeregte Laute ausstoßend - davonmacht. "You should take care of your bananas", gibt mir der grinsende Shopkeeper noch als gutgemeinte Belehrung mit auf den Weg.

Mein nächstes Reiseziel ist Goa. Ich bin wieder einmal mit dem Bus unterwegs, der Busfahrer fährt ein hübsches Tempo, begleitet von lauter indischer Musik. Die zu hörenden Songs stammen aus den Filmen der äußerst produktiven indischen Filmindustrie und sind bei der Bevölkerung sehr beliebt. Lärmempfindlichen ist zu empfehlen, vor der Wahl des Sitzplatzes im Bus genau nachzusehen, wo die Lautsprecher angebracht sind. Das Zentrum der indischen Filmindustrie heißt übrigens Bollywood, ein Kunstwort, das aus Bombay + Hollywood gebildet wurde.

Nachmittags Ankunft in Panaji in Goa. An den wunderschönen Palmenstränden relaxe ich die nächsten zwei Wochen. Ich schwimme viel, ernähre mich von Fischgerichten und tropischen Früchten. Hier treffe ich zahlreiche junge Menschen aus Europa und den USA. Goa ist eines der Traumziele der am Anfang meines Textes beschriebenen Reisewelle Richtung Osten. Viele haben sich hier seit Monaten oder gar seit Jahren in billigen Zimmern eingemietet, rauchen täglich ein paar Joints und leben ziellos in den Tag hinein. Einige andere pendeln schon seit Jahren zwischen Nordindien, Nepal und Goa hin und her, verbringen den heißen Sommer in den Bergen und den indischen Winter mit seinen angenehmen Temperaturen am Meer. Sie leben von ihren Ersparnissen oder von dem, was die besorgten Eltern ihnen monatlich überweisen, um ihren Sprösslingen, auf die sie jeden Einfluss verloren zu haben scheinen, wenigstens den Kauf der Güter des täglichen Bedarfs zu ermöglichen. Wieder andere kennen die ökonomischen Verhältnisse sehr genau und halten sich mit kleineren Geschäften über Wasser, reisen unter Umständen bis nach Pakistan oder Nepal und kaufen dort Waren, die in Indien Mangelware sind und verkaufen sie dann hier oder praktizieren das Ganze in umgekehrter Richtung. Zur Finanzierung ihres Aufenthaltes in Indien schrecken einige aber auch nicht davor zurück, junge Touristen aus westlichen Ländern um ihre Geldbörsen oder Kameras zu erleichtern.

Letztes Ziel meiner Reise ist Bombay, die Metropole an der Westküste. Dort angekommen fahre ich direkt weiter in den Vorort Andheri-East zu Pater Proksch, der dort einen Ashram leitet. Pater Proksch ist ein Missionar der "Gesellschaft des Göttlichen Wortes" (Societas Verbi Divini, abgekürzt: SVD), einer 1875 in dem kleinen holländischen Ort Steyl bei Venlo gegründeten katholischen Missionsgesellschaft (Steyler Missionare). In diesem christlichen  Ashram leben ca. 30 junge Männer und Frauen, die Musikinstrumente erlernen (z. B.: Sitar, ein indisches Saiteninstrument oder Tabla, eine indische Trommel arabischer Herkunft), oder sie beschäftigen sich mit christlicher Literatur etc.; außerdem sind ganz lebenspraktische Dinge zu erledigen, wie das Kochen für die Ashrammitglieder oder die Pflege des hauseigenen Gartens. Ein Schwerpunkt der Arbeit dieser Gemeinschaft ist jedoch das Einstudieren der Darstellung biblischer Themen durch verschiedene Formen indischen Ausdruckstanzes und indischer Musik. Mit dem umfangreichen Repertoire der einstudierten Tänze  geht Pater Proksch zusammen mit seinen Tänzer/innen auf Tournee durch viele Länder, bei einer seiner Stationen in Speyer habe ich ihn kennengelernt.

Ich genieße meinen ersten Aufenthalt in einem Ashram und begleite Pater Proksch zu einigen Gottesdiensten in den umliegenden Gemeinden. Das Leben in dieser Gemeinschaft ist auf einem hohen geistigen und sozialen Niveau, die hier lebenden jungen Menschen wirken auf mich offen, tolerant, kosmopolitisch. In jedem Ashram gibt es Regeln, an die sich die Mitglieder halten müssen. Hier in Andheri war das für mich jedoch nicht so sehr wahrzunehmen, ich habe auch nicht intensiv nachgefragt, an die Besonderheiten beim Einnehmen der Mahlzeiten kann ich mich jedoch noch sehr gut erinnern. Als Gast durfte ich neben dem Pater sitzen, was schon eine besondere Ehre war. Nach dem Sprechen eines Gebetes fing Pater Proksch als erster an zu essen, erst dann begannen die anderen mit dem Essen. Gesprochen wurde bei den Mahlzeiten nicht, außer für wichtige Mitteilungen. Alle konzentrierten sich auf diese entspannende, ja, fast meditative Form der Nahrungsaufnahme.

Nach einer Woche verlasse ich diesen Platz der Ruhe und wohne ab sofort in einem Mehrbettzimmer der YMCA (Young Men’s Christian Association) in der City von Bombay. Frühstück, Mittagessen und Abendbrot waren lecker zubereitet, ich brauchte mich ein paar Tage nicht um die Organisation meiner täglichen Ernährung zu kümmern.

Bombay, die Hauptstadt des Unionsstaates Maharashtra ist eine riesige Stadt, die offiziell Mumbai genannt wird, welches der Name einer Göttin ist, die die Ureinwohner der Gegend, die Kolis, verehrten. International werden heute die beiden Bezeichnungen "Bombay" und "Mumbai" verwendet. Auf der einen Seite gibt es das moderne Zentrum mit seinen vielen Geschäften und Banken, auf der andere Seite riesige Slumgebiete, die ständig wachsen. Die Armut in den ländlichen Gebieten ist oft sehr groß und die verzweifelten Familien hoffen, ihre Existenz in großen Städten sichern zu können. Dieses Phänomen ist ja auch aus anderen Ländern bekannt, die ebenfalls mit ökonomischen und sozialen Problemen der Landbevölkerung zu kämpfen haben.

Bombay ist eine wichtige Hafenstadt und Sitz eines katholischen Erzbischofs. Es gibt zahlreiche Hochschulen und Museen, außerdem ist sie das Zentrum der indischen Baumwollindustrie. Maschinen- und Fahrzeugbau, Nahrungsmittel- und Konsumgüterindustrie und vieles andere mehr, machen die Stadt zu einem wichtigen Standort und Arbeitgeber für viele Menschen. Eine Besonderheit dieser Stadt, die ich noch erwähnen möchte, sind die dort lebenden Parsen und die von ihnen praktizierte Bestattung ihrer Verstorbenen. Die Religion der Parsen geht auf Zarathustra zurück, einen persischen Propheten, der ca. 600 vor Christus im Ostiran wirkte. Er war Priester und Sänger und wurde wegen seines Protestes gegen blutige Stieropfer und rauschhafte Orgien arischer Männerbünde aus seiner Heimat vertrieben. Heilige Schrift des Zoroastrismus und heutigen Parsismus ist das "Avesta", von dem allerdings nur noch ein Viertel des einstigen Umfanges vorhanden ist. Vor der Islamisierung Persiens flüchten die Parsen und lassen sich im Jahre 717 nach Christus im westlichen Indien nieder. Die Anzahl der in Bombay lebenden Parsen wird auf ca. 80.000 geschätzt. Weithin bekannt sind die so genannten "Türme des Schweigens", die in einem Areal liegen, das mit hohen Mauern umgeben ist. Die parsische Religion sieht für ihre Toten die Vogelbestattung vor. Der Hintergrund zu diesem Ritual lässt sich folgendermaßen erklären: die vier Elemente (Feuer, Wasser, Erde und Luft) sind den Parsen heilig und dürfen nicht verunreinigt werden. Deshalb legen sie ihre Verstorbenen auf Roste in die "Türme des Schweigens" und lassen sie von Vögeln verzehren.

An einem Nachmittag fahre ich zu diesem Bestattungsplatz, der Zutritt wird jedoch allen verwehrt, die nicht zu dieser Volksgruppe gehören. In der Umgebung dieser Türme sehe ich zahlreiche Geier auf Häusern und Mauern sitzen, ein etwas unangenehmes Gefühl ergreift mich bei dem Gedanken an diese Bestattungsform. Einmal mehr bin ich irritiert, wie sehr die religiösen Anschauungen und Rituale der Menschen in unserer Welt divergieren. Die Parsen sind im allgemeinen sehr gebildet und nehmen führende Stellungen im öffentlichen und geschäftlichen Leben ein. Ihre Zahl ist insgesamt rückläufig, da sie nur untereinander heiraten dürfen. Kinder aus Mischehen werden nicht als Parsen anerkannt.

Meine Zeit in Indien neigt sich nun dem Ende entgegen. In den letzten beiden Tagen besuche ich häufig das "Gateway von India", den alten Anlegeplatz der Passagierschiffe aus Europa. Der 26 m hohe Torbogen, erbaut im Gujarat-Stil, wurde an Weihnachten 1924 vom damaligen Vizekönig Indiens, Earl Reading, zum Gedenken des Besuchs von König George und Königin Mary im Jahre 1911 eingeweiht. Am Gateway von India treffe ich Menschen aus der ganzen Welt. Hier werden Kontakte geknüpft und Informationen über das Reisen durch Indien ausgetauscht. Direkt am Meer befindet sich dieser majestätische Torbogen, ein guter Platz und würdevoller Ort, um von Indien Abschied zu nehmen.

An meinem letzten Abend in Indien stehe ich dort und bin traurig. Meine Zeit hier ist vorbei, mein Geld fast aufgebraucht. Die zwei zurückliegenden Monate haben mir viel abverlangt, doch ich habe viel dafür zurückbekommen. Ich bin glücklich darüber, hier gewesen zu sein. Die Faszination für das Land Indien und seine Menschen ist mir bis heute erhalten geblieben.

Am 01. Juni 1976 nachmittags besteige ich eine Boeing der Egypt Air. Wir fliegen zunächst nach Kairo, wo ich als Transferpassagier bis zum nächsten Vormittag auf meinen Weiterflug warte. Nach einem weiteren Stopp in Rom landet meine Maschine am 02.06.76 kurz nach Mittag auf dem Frankfurter Flughafen.

 

Nachbetrachtungen

Nach meiner Rückkehr musste ich mich erst einmal wieder an die sozialen und kulturellen Verhältnisse in Deutschland gewöhnen. Das ist mir sehr schwer gefallen und dauerte einige Monate. Meine motorischen und vokalen Tics waren durch die physischen und psychischen Anstrengungen während meines Indienaufenthaltes schlimmer geworden und es vergingen mehrere Wochen, bis meine Tourette-Symptomatik sich wieder auf das vorherige Niveau zurückgebildet hatte.

Das größte Problem in Indien für mich waren die mit Menschen überfüllten Straßen, Plätze, Busse, Züge, Geschäfte und Restaurants. Es gab – außer in meinem Hotelzimmer – keinen Platz, wohin ich mich hätte zurückziehen können. Die Möglichkeit des Rückzugs ist und war für mich aber schon immer extrem wichtig, um motorisch und vokal zur Ruhe kommen zu können.

Doch trotz alledem habe ich diese Reise nie bereut, denn die schönen und abwechslungsreichen Landschaften, die kulturelle Vielfalt, und die vielen Begegnungen mit interessanten und liebenswerten Menschen haben mich innerlich reich gemacht. Ich bin immer noch angefüllt mit Erinnerungen aus dieser Zeit und genieße es sehr, in der Vorstellung nach Indien zurückzukehren.

 

Speyer, im Februar 2002 (überarbeitet im Jahr 2007)

 

Q u e l l e n :

Goldmann Lexikon - Bertelsmann Lexikographisches Institut, Taschenbuchausgabe 1998
Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Gütersloh

Kurt Friedrichs - Das Lexikon des Hinduismus - Taschenbuchausgabe 1996
Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Gütersloh

 

Für die bescheidene Qualität der Fotos bitte ich um Ihr Verständnis. Ich hatte nur eine einfache Kamera dabei, was ich im nachhinein sehr bedaure. Der Belichtungsmesser funktionierte in der extremen Sonneneinstrahlung des indischen Sommers nicht richtig, viele Aufnahmen waren überbelichtet und nicht zu gebrauchen. Ich habe mich trotzdem für eine Veröffentlichung eines Teils der Aufnahmen entschieden, denn ... was wäre ein Reisebericht ohne Fotos!

 

© Copyright Hermann Krämer, 67346 Speyer/Rhein

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